BR berichtet über Said Hussein

Saids Odyssee

Said bei der Arbeit in Bamberg, © Enno Jochen Zerbes
Said bei der Arbeit in Bamberg, © Enno Jochen Zerbes

Said Hussein ist 26 Jahre jung. Seine Heimat: Äthiopien. Gut ein Viertel seiner Lebenszeit ist er weggelaufen. Er hat sich in Äthiopien vor der Regierung versteckt, wurde dort verhaftet, ist auf staubigen Straßen im Auto in den Sudan geflohen, schlug sich in Libyen durch und wagte schließlich, eingepfercht mit gut hundert anderen Leidensgenossen, in einem geflickten Schlauchboot die gefährliche Passage über das Mittelmeer. Sein Ziel: Europa. Heute macht er in Bamberg eine Lehre zum Autolackierer.

Said lacht und freut sich über den Besuch an einem Samstagnachmittag. Seine Freundin Zinash (24), sein Sohn Adonai (1) und ein paar Freunde aus Forchheim, die die junge Familie heute besuchen, sind da. Said lebt mit seiner Familie an der Breitenau. „Glasscherbenviertel“ sagt man in Bamberg. Alles, was hinter der Bahnlinie liegt, ist asozial, heißt es im Volksmund. Für Said, Zinash und Adonai bedeutet es vor allem: Freiheit und Sicherheit. Sie haben in Deutschland Antrag auf Asyl gestellt.

Grausame Bilanz einer Flucht

Beengte Verhältnisse, © Enno Jochen Zerbes
Beengte Verhältnisse, © Enno Jochen Zerbes

Die Familie lebt in beengten Verhältnissen. Das Ein-Zimmer-Apartment hat 20 Quadratmeter. Darauf sind Bett, Kinderbett, Couch, Schreibtisch sowie Bad und Wohnküche, die eher einer Kochnische gleicht, untergebracht. Die Wohnung ist etwa doppelt so groß wie das Schlauchbot, mit dem er und gut 100 Andere vor über drei Jahren von der libyschen Hauptstadt Tripolis aus in Richtung Sizilien, in Richtung Freiheit in See stachen. Said erzählt von seinem Weg nach Deutschland. „Das Boot war vielleicht acht Meter lang und höchstens 1,50 Meter breit“, schätzt Said. In der Nussschale befanden sich zu viele Passagiere, unter ihnen Frauen, Kinder und größtenteils Minderjährige. „Das Boot war hoffnungslos überladen. Der Tiefgang war entsprechend, die See unruhig. Ständig schwappte Wasser hinein. Ich hatte Todesangst.“

Während der Passage gibt es ein striktes Ess- und Trinkverbot, um menschliche Bedürfnisse gar nicht erst aufkommen zu lassen. Ausgehungerte, dehydrierte Menschen, die in dem überfüllten, maroden und keinesfalls hochseetauglichen Boot „mit bloßen Händen das eintretende Wasser über Bord schöpfen und um ihr Leben kämpfen“, beschreibt Said die Situation auf dem Meer. „Viele waren so verzweifelt, dass sie über Bord gesprungen sind, wenn sie ein Schiff der italienischen Küstenwache erblickt haben. Sie hatten keine Chance“, sagt Said und sein Blick senkt sich, wenn er daran zurückdenkt. Die Überfahrt dauert drei ganze Tage. 110 Menschen haben in Tripolis abgelegt. Acht weniger kommen mit dem Schiff der italienischen Küstenwache auf Sizilien an. Das ist die grausame Bilanz seiner Flucht.

Warum tut ein Mensch so etwas, warum verlassen Menschen ostafrikanischer Herkunft ihre Heimatländer und wagen diesen kreuzgefährlichen Trip über das Mittelmeer nach Europa? Die Antwort kann man sich denken. Said bestätigt: „Die Bedingungen in Äthiopien waren und sind furchtbar.“ Saids Heimatland gehört zu den ärmsten Ländern der Welt. Hunger und Dürre sind allgegenwärtig. Dazu kommen die schlimmen politischen Rahmenbedingungen.

Perspektivlosigkeit, Selbstmord und Migration

Said war und ist Anhänger der Qinijit-Koalition, ein demokratisches Bündnis, das gegen die autoritäre Führung aufbegehrt. Weil er als 18-Jähriger Flugblätter verteilte, musste er schon ins Gefängnis. Seine Mutter bezahlte viel Geld und kaufte ihn frei. In der Anonymität der gut 250 Kilometer südwestlich von Addis Abeba gelegenen Provinzhauptstadt Jimma suchte er Schutz. Das ist gut acht Jahre her. Saids Vater arbeitete damals für die Regierung, hatte ein Einkommen, die Familie zu essen. Said ging zur Schule und machte einen Abschluss. Das ist in Äthiopien nicht selbstverständlich. Dann kommt alles anders: Weil sein Vater die Qinijit-Koalition unterstützte, verlor er seinen Job und jede Perspektive. Er gab auf, war verzweifelt und beging Selbstmord.

Auch die Bevölkerung leidet. Denn es verändert sich wenig im Land. Angesichts eines stark auf Wahlbetrug hindeutenden Wahlergebnisses von 99,6 Prozent für die Regierungspartei bei den letzten Wahlen im Jahr 2010, ist das auch kein Wunder. Die Situation ist unübersichtlich, so viele oppositionelle Gruppierungen formieren sich binnen kürzester Zeit und verschwinden gleich wieder von der Bildfläche. Denn die seit 1991 regierende Ethiopian People’s Revolutionary Democratic Front (EPRDF) geht immer noch mit großer Härte gegen Oppositionelle vor. In dieser Hinsicht unterscheidet sich der gegenwärtige Präsident Hailemariam Desalegn nicht von seinem Vorgänger Meles Zenawi (1991-2012). Auf der Strecke bleibt das Volk – und junge Menschen wie Said verlassen das Land.

Vor diesem Hintergrund operiert die Armee, die alles, was irgendwie nach Protest aussieht, verfolgt, verhaftet, schlägt und einsperrt. Im Grunde kann es jeden treffen. Auch Said wurde für seine politische Orientierung geschlagen, auch deshalb hat er das Land verlassen. „Als ich aus dem Gefängnis kam, sagte meine Mutter: ‚Du musst weg von hier.‘“ Die Mutter ist geblieben. Seit 2014 ist die Verbindung jedoch abgebrochen. „Sie hatte ein Handy. Aber die Leitung ist tot. Ich kann sie nicht erreichen“, sagt Said und träumt davon, sie eines Tages nach Deutschland holen zu können. Er wird traurig, wenn er an sie denkt. „Sie fehlt mir.“

Saids Weg nach Europa war lang. Er dauerte insgesamt gut sechs Jahre. Er flieht in den Sudan, wo er sich fast drei Jahre als Pizzabäcker durchschlägt, „illegal selbstverständlich.“ Als der Krieg im Sudan immer bedrohlicher wird, verlässt er abermals das Land. Sein Ziel: Libyen. „Dort gab es überhaupt keine Arbeit. Die Not war groß. Manche erhielten Geld von ihren Verwandten im Ausland und man half sich gegenseitig“, sagt Said. Und dann traf er Zinash, seine jetzige Freundin. Sie hielt sich bereits in Libyen auf. Die 24-jährige Äthiopierin hilft ihm wo sie kann. „Dafür bin ich ihr ein Leben lang dankbar“, sagt er. „Und für unseren Sohn“ – Saids Augen leuchten, während der in Deutschland geborene Dreikäsehoch eine volle Smarties-Packung in ein Musikinstrument verwandelt, sich über die rhythmischen Rasselgeräusche freut und seinen Papa anlacht.
2013 fasst Said den Entschluss, die Überfahrt zu wagen. Zuerst er, dann, sechs Monate später, Zinash. Das ist der Plan. Er gelingt. Nach einem schrecklichen Monat in Italien, landet er mit dem Bus in München. Für die Fahrt von Sizilien nach Bayern bezahlen Said und ein Freund gut 800 Euro. Das Geld bekommt er von einem Bekannten, der im Sudan Geld verdient. Die bayerische Regierung schickt Said über Zirndorf nach Bamberg, wo er im Januar 2014 ankommt. Zinash trifft ein halbes Jahr später in der Domstadt ein. Auch sie wagt die gefährliche Überfahrt. Auch sie hat drei Tage und drei Nächte Todesangst. Über das Handy halten sie Kontakt. Es ist unvorstellbar. Jetzt aber sind sie in Sicherheit und glücklich. „Wir sind wirklich sehr froh hier zu sein“, sagt Said und nimmt seine Frau in den Arm. Zinash lächelt. Said lächelt. Adonai lächelt.

Lob vom Chef

Ist mit Said sehr zufrieden: Jürgen Brandl, Geschäftsführer der Fa. Brandl Fahrzeugtechnik in Bamberg, © Enno Jochen Zerbes
Ist mit Said sehr zufrieden: Jürgen Brandl, Geschäftsführer der Fa. Brandl Fahrzeugtechnik in Bamberg, © Enno Jochen Zerbes

Was nun passiert, kann niemand sagen. Fakt ist: Vom Status eines sicheren Herkunftslandes ist Äthiopien Galaxien entfernt. Autoritäre Regierung, interne und externe Konflikte, Hungersnot und Dürre – eine explosive Mischung, die an bürgerkriegsähnliche Zustände erinnert. Said und Zinash wissen nicht, wann und ob dieser Zustand irgendwann einmal enden wird. Deshalb will Said sich und seiner Familie eine neue Existenz in Deutschland aufbauen. Die erste Herausforderung: Arbeit finden. Er absolvierte vergangenes Jahr ein Praktikum bei der Bamberger Karosseriebau-Firma Brandl. Dabei stellte er sich so gut an, dass ihn der Geschäftsführer Jürgen Brandl im September 2015 sofort als AZUBI einstellt: „Said ist ein aufgeschlossener Mensch, der bei seinen Kollegen sehr gut ankommt. Er ist bei uns voll integriert und macht einen super Job.“ Verantwortlich dafür ist u. a. sein sehr gutes Deutsch. Er hat den A1-, A2- und den B1-Kurs bestanden und will bald den nächsthöheren B2-Kurs in Angriff nehmen. In der Berufsschule wird seine Ausbildung mit Nachhilfeunterricht ergänzt. So wird gewährleistet, dass Said den Stoff auch wirklich versteht. „In Mathe hat er eine 2. Wer hat das heute noch“, lobt Brandl seinen Schützling. „Er ‚will‘ einfach. Das ist etwas, was ich bei vielen Berufsanfängern vermisse und an Said sehr schätze. Er ist ein feiner Kerl.“

Die Lehre zum Autolackierer dauert noch gut zweieinhalb Jahre. Bevor die Ausbildung endet, will Brandl für Said, Zinash und Baby Adonai eine größere Wohnung beschaffen. „Die Wohnbedingungen an der Breitenau sind nicht die besten“, weiß Brandl. „Wir unterstützen ihn bei der Wohnungssuche, sobald klar ist, dass er umziehen darf.“ Brandl spielt damit auf die Behörden an. Er weiß, dass sein Lehrling nicht einfach den Wohnort wechseln kann. Nach einer Odyssee von gut 10.000 Kilometern wäre es der nächste Schritt in ein normales Leben, von dem Said und Zinash so sehr träumen. Denn weglaufen müssen sie jetzt nicht mehr. Sie können nur noch ankommen.

Text & Fotos: Enno Jochen Zerbes

BR berichtet über Said Hussein
BR berichtet über Said Hussein

Nachtrag (16.07.2016):
So ging es mit Said weiter:
Der BR berichtete in der Frankenschau vom 14.07. über den jungen Mann aus Äthiopien, dessen Asylantrag zwischenzeitlich abgelehnt wurde.

Saids Weg nach Bamberg

2008

In seiner Heimat Äthiopien wird Said für seine politische Orientierung geschlagen und schließlich verhaftet. Nach einem Monat Gefängnis wird er entlassen, weil seine Mutter viel Geld für seine Freilassung bezahlt. Er versteckt sich in Jimma, wagt dann aber die 14-tägige Flucht in den Sudan, wo er sich als Pizzabäcker durchschlägt.

2011

Der Krieg im Sudan zwingt Said zur Weiterfahrt nach Libyen. Dort gibt es keine Arbeit. In Libyen lernt er Zinash kennen.

2013

Von Tripolis aus erfolgt die gefährliche Überfahrt mit dem Schlauchboot in Richtung Sizilien. Von 110 Menschen an Bord sterben acht. Das Boot wird von der italienischen Küstenwache aufgegriffen. Januar 2013: Ankunft in München, sofortige Verlegung nach Zirndorf bei Nürnberg.

2014

Januar: Ankunft in Bamberg, wo Said heute mit seiner Freundin Zinash (24) und Sohn Adonai (1) lebt.