Die Angst ist groß – unter den Menschen, die aus Afghanistan stammen und es irgendwie nach Deutschland geschafft haben. Einige von ihnen sind auch in Bamberg gelandet – in einer Stadt, von der sie sich ein Leben ohne Angst erhofft haben. Seit Bundesregierung und Bayerische Staatsregierung beschlossen haben, Menschen afghanischer Herkunft wieder in ihr Heimatland abzuschieben, ist die Angst wieder da. Sie frisst sich in die Köpfe von Menschen wie Hosein Ali.
Es ist wie ein Spuk, ein Alptraum. Hosein Ali, den alle nur Ali nennen, hat die dramatischen Ereignisse um seinen Freund Azis miterlebt. „Ich habe in den Nachrichten gesehen, wie sie ihn abgeholt haben. Ich habe ihn wenige Tage vor seiner Abschiebung noch getroffen. Wir haben zusammengesessen und geredet. Er hat seit fünf Jahren hier in Bamberg gelebt, eine Arbeit gehabt. Wir waren sehr traurig. Azis fürchtete sich vor seiner ungewissen Zukunft in Afghanistan“, blickt er auf die Tage im Januar zurück. Hosein Ali ist 18 Jahre jung. Auch sein Asylantrag wurde abgelehnt. Dagegen hat er mit Unterstützung des Don Bosco Jugendhilfswerks Bamberg geklagt. Und so lange in seinem Fall keine Entscheidung gefällt wurde, darf er bleiben.
Man kann nur erahnen, was es für Hosein Ali bedeutet, tagein tagaus mit dieser Ungewissheit zu leben, die sich wie ein sprichwörtlicher Strick um seinen Hals legt und ihm die Luft zum Atmen nimmt. Niemand kann sich ein Bild davon machen, was die Angst um Leib und Leben – denn nichts anderes bedeutet eine Abschiebung nach Afghanistan für diese Menschen – mit den Betroffenen macht. Wenn man Hosein Ali begegnet, trifft man auf einen freundlichen, hilfsbereiten jungen Mann, der dann und wann ein FC Bayern-Trikot trägt und immer lächelt. Erst wenn man nachfragt, bekommt man in etwa eine Vorstellung davon, wie es in seinem Inneren aussieht. „Ich träume jede Nacht davon, wie die Polizei in mein Zimmer kommt und mich mitnimmt. Und dann wache ich nachts um drei oder vier auf und merke, alles ist gut.“ Um sich von diesen Gedanken soweit es geht abzulenken, hilft er im Haus.Freiden, der Freund statt fremd-Begegnungsstätte, aus, unterstützt die Veranstalter der Bamberger Mahnwachen gegen Abschiebungen nach Afghanistan in der Organisation, lernt, obwohl es ihm sehr schwer fällt, sich angesichts seiner Situation zu konzentrieren, für seinen Berufsschulabschluss und treibt Sport. Hauptsache, er hat etwas zu tun. Spätestens aber wenn er abends todmüde ins Bett fällt, durchlebt er Nacht für Nacht das Unvorstellbare im Schlaf: die Rückkehr in ein Land, das er nicht kennt und aus dem seine Eltern, seine Familie um die Jahrtausendwende vor den Taliban geflohen sind. Da ist Hosein Ali gerade mal drei Monate alt. Die Familie gehört dem Stamm der Hazara an. Zwischen Afghanistans drittgrößter Ethnie und den Taliban existiert ein langer Konflikt, in dem auf beiden Seiten viel Blut geflossen ist. Davon betroffen ist auch Hosein Alis Familie – die Taliban ermorden seine Großeltern. Hosein Alis Familie tut in dieser Zeit das, was viele Hazara tun: Sie fliehen vor dem Terror. Zahlreiche Hazara – etwa eine Million, schätzt Hosein Ali, Medienberichte sprechen von zwei Millionen – landen in der iranischen Grenzstadt Mashad – illegal und ohne Papiere. Dann stirbt der Vater. Da ist Hosein Ali neun Jahre alt. Die Mutter lebt mit den beiden Brüdern bis heute in Mashad.
Kanonenfutter für den Krieg in Syrien
Was im Iran mit ihm passiert, erinnert an einen schlechten Film. Im Alter von 15 Jahren wird Hosein Ali auf offener Straße von der iranischen Polizei regelrecht entführt. Es ist nichts Neues, dass insbesondere auch minderjährige Angehörige seines Stammes und andere Geflüchtete aus Afghanistan, die illegal im Iran leben, zum Militärdienst zwangsrekrutiert werden. Ob sie wollen oder nicht, der Iran schickt sie in den Krieg nach Syrien. Dort kämpfen sie auf Seiten des syrischen Machthabers Baschar al-Assad gegen den islamischen Staat und die Revolutionstruppen – es ist ein Himmelfahrtskommando, ein Deal auf Leben und Tod. Wer den Einsatz überlebt, erhält offizielle iranische Papiere. Auch Hosein Ali musste diesen Handel eingehen. Aber er wehrt sich. Auf der Busfahrt in die Kaserne kann er sich während einer Toilettenpause an einer Tankstelle absetzen. Als Deserteur muss er wieder fliehen. Diese Mal nicht vor den Taliban, sondern vor der iranischen Regierung. Ausgerechnet in diesem Moment begegnet er einem Mann, der ihm helfen will, erzählt er. Es lässt sich nicht überprüfen, aber es drängt sich der Verdacht auf, dass diese Person zu einem Schleuserring gehören muss, der genau hier auf neue „Kundschaft“ wartet, weil er wohl sehr genau weiß, dass die Militär-Busse hier halten. Aus reiner Nächstenliebe wird der Mann Hosein Ali jedenfalls nicht nach Teheran gebracht, ihm ein Abschiedstelefonat mit seiner Mutter ermöglicht und an Personen vermittelt haben, die ihm zuerst ein Versteck organisieren, wo er untertauchen kann, um dann etwas später mit einer Gruppe die Flucht in die Türkei zu wagen. Das alles hat seinen Preis: umgerechnet etwa 3000 Euro. Dafür verkauft die Mutter, die in Mashad als Schneiderin arbeitet, mehr oder weniger wertvollen Familienschmuck, sagt Hosein Ali. Zusammen mit seinen eigenen Ersparnissen, die er sich als Tagelöhner irgendwo in Mashad mühsam verdient hat, reicht es gerade so, um die Schleuser zu bezahlen.
Hosein Alis Angaben lassen sich nicht verifizieren. Er weiß das. Wer aber etwas darüber nachdenkt, versteht, dass es im Grund egal ist, wie sich die Menschen ihre Geldquellen erschließen und was letzten Endes die konkreten Motive für eine Flucht sind. Fakt ist: Dass Mütter, Väter und Familien trotzdem ihre minderjährigen Söhne dem extrem hohen Risiko einer langen Flucht nach Europa aussetzen, bei der niemand weiß, ob sie den Trip überhaupt überleben, sagt viel über die Lebensumstände von Menschen aus, die bis auf ihr Leben, rein gar nichts mehr zu verlieren haben. Wer eins und eins zusammenzählt kann deshalb nachvollziehen, Hossein Alis Mutter muss sich in einer fatalen Situation befinden. Zur Angst um den fern der Heimat lebenden Sohn, kommt ein unvorstellbarer Druck, dem Sie ausgesetzt ist. Die iranischen Behörden könnten Mutter und Hosein Alis Brüder jederzeit entdecken. Vor diesem Hintergrund droht den beiden jüngeren Brüdern früher oder später dasselbe Schicksal. Die Polizei könnte sie ebenfalls aufgreifen und wie Hosein Ali zwangsrekrutieren. Sie wären voraussichtlich die nächsten Deserteure, die den Versuch wagen würden, irgendwie nach Europa zu gelangen. Und das treibt sie vermutlich erneut in die Hände der Schleuserbanden. Das Geschäft mit der Not, der Angst und ums Überleben ist wie ein sich ewig drehender Teufelskreis – ein perfides System.
Hosein Alis Fluchtweg führt über die Berge in die Türkei. Er sieht mit eigenen Augen, wie zwei Personen aus seiner Gruppe dabei den Tod finden. Sie stürzen in den Bergen ab. „Es war schrecklich“, erinnert er sich mit zittriger Stimme. Plötzlich wirkt er apathisch, traumatisiert, sein Blick wird starr, als ob er dieses schreckliche Ereignis gerade noch einmal durchlebt. „Ich wollte nach Deutschland“, fährt er schnell fort, um sich abzulenken. Nach insgesamt gut sechs Monaten kommt Hosein Ali schließlich in München an. Er ruft seine Mutter an. Er kann sich genau erinnern, wie er ein „Ich habe es geschafft, Mama“ in den Hörer ruft. Zu diesem Zeitpunkt weiß er noch nicht, dass er zwei Jahre später wieder von der Abschiebung bedroht ist.
Wohl und Wehe seiner Existenz liegen heute abermals in den Händen von Regierungen – jetzt der Bayerischen Staatsregierung und der Bundesregierung. Kann das ein 18-jähriger verstehen? Auf diese Frage zuckt Hosein Ali mit den Schultern. „Was ich weiß ist, dass Afghanistan kein sicheres Land ist. Tausende Menschen müssen dort wegen Terror und Gewalt sterben. Wenn sie mich nach Afghanistan schicken, kenne ich dort niemanden, ich bin Hazara, spreche Dari und kein Paschtu, bin Schiite und kein Sunnite – für mich ist das sehr gefährlich. Es ist für mich ein fremdes Land“, sagt Hosein Ali.
In Bamberg gut integriert
Hosein Ali ist in Bamberg gut integriert. Noch minderjährig unterschreibt er einen Ausbildungsvertrag als Maler, den er aber wegen einer schweren Sportverletzung, die er sich kurze Zeit später zuzieht, nicht erfüllen kann. Er ringt für den KSV Bamberg. Seine Trainer, seine Mannschaftskameraden, sie mögen Hosein Ali. Dann die Verletzung. Während eines Kampfes zieht er sich einen komplizierten Armbruch zu. Die Heilung verläuft trotz mehrerer Operationen sehr gut. Trainer und Mannschaftskameraden, Berufsschulkollegen und Lehrer besuchen ihn im Krankenhaus. „Das war das Schönste für mich“, erzählt er. Als er wieder gesund ist, macht er sich auf die Suche nach einer neuen Lehrstelle. Nach einem Praktikum legt ihm der Eigentümer eines Bamberger Cafés einen Ausbildungsvertrag als Koch vor. Den darf er aber nicht antreten, weil er zwischenzeitlich 18 geworden ist. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) meldet sich. Er muss einen Asylantrag einreichen. Es folgt das übliche Interview, in dem er, wie viele andere vor ihm, seine Geschichte erzählt, gefolgt von der obligatorischen Absage.
Niemand kann im Grunde die Lebensläufe der Asylbewerber nachprüfen – auch Behörden wie das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) nicht. Die meisten Geflüchteten besitzen keinerlei Dokumente, mit denen sie ihre Identität nachweisen oder die als Basis für eine Recherche herangezogen werden könnten. In vielen Herkunftsländern ist es nicht üblich, „Papiere“ auszustellen. Es ist eine Frage der Zeit, wann die Menschen das herausfinden und bewusst falsche Herkunftsangaben machen, wenn sie damit ihre Bleibeperspektive erhöhen. Wer sagt, er komme aus Syrien, Irak oder Somalia, darf nämlich bleiben. Aus gutem Grund gelten diese Staaten als nicht sicher. Warum Afghanistan nicht dazu gehört, obwohl alle Fakten dafür sprechen, und was Bayerische Staatsregierung und Bundesregierung dazu veranlasst, das Land wider aller Realität als sicher einzustufen, bleibt ein Rätsel.
Hosein Ali kämpft und protestiert indes gegen die Abschiebungen. Er geht auf die Bamberger Mahnwachen am Gabelmann und auf die Demos in Nürnberg und Bamberg. Es ist ein Kampf, der beinahe aussichtslos erscheint. Auch wenn er jetzt von offizieller Seite unterstützt wird. In einem offenen Brief an den Bayerischen Innenminister Joachim Hermann (CSU) fordert die Stadt Bamberg, Abschiebungen nach Afghanistan auszusetzen. Unterstützt wird sie dabei durch den Migranten- und Integrationsbeirat (MIB) sowie die Arbeitsgemeinschaft der Ausländer-, Migranten- und Integrationsbeiräte Bayerns (AGABY). Unterzeichnet wurde das Schreiben u. a. auch vom Bamberger Oberbürgermeister Andreas Starke (SPD). Es ist ein positives Signal. Aber der eigentliche Kampf findet in Hosein Alis Kopf statt – gegen schlaflose Nächte, Alpträume und die chronische Angst, die längst zu seinem täglichen Begleiter geworden sind und Stück für Stück an seiner jungen Seele nagen. Die Zeit läuft.
Text & Fotos: Enno Jochen Zerbes